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Samstag, 10. Oktober 1903. Im Wohnzimmer in der Nelson Street Nr. 62 in Manchester warten Emmeline Pankhurst und ihre Töchter Christabel und Sylvia auf drei weitere Frauen, mit denen sie am Abend eine Organisation gründen würden, die die Welt tatsächlich in Bewegung setzen sollte.

 

Sie waren es leid gegen erniedrigende Argumente anzureden, wie oft hatten sie sich bei Versammlungen und Wortgefechten auf der Straße anhören müssen, dass Frauen sich besser auf ihre eigentliche Aufgabe als Hüterin des Hauses und das Gebären von Nachwuchs konzentrieren sollten, statt sich jetzt auch noch in die Politik einzumischen, wofür sie schon allein biologisch nicht geschaffen seien.

 

Zunehmend mehr Männer hatten seit den 1860 Jahren im britischen Wahlsystem, das an Besitz und Einkommen gebunden war, ein Stimmrecht erhalten, während Frauen als einzigen Erfolg verbuchen konnten, dass 1869 ledige und verwitwete Frauen kommunal wählen durften. Damit hatten sich die Ehegatten das politische Hoheitsrecht als Haushaltsvorstand weiter gesichert. Weitergehende parlamentarische Eingaben, Petitionen, Gerichtsverfahren bestätigten nur immer wieder den unverrückbaren Status quo.

 

Die Frauen hatten sich zwar breit organisiert, von Cornwall bis zu den Highlands hatten sich 449 Stimmrechtsvereine unter dem Dach der National Union of Women`s Suffrage Societies (NUWSS) zusammengeschlossen, blieben aber mit ihrer gemäßigten Strategie genauso wirkungslos, wie sich die politischen Parteien als sehr unzuverlässige Bündnispartner erwiesen.

 

Die sechs Frauen in der Nelson Street wollten ihre Zeit nicht mehr sinnlos mit Petitionen und Bittgängen verschwenden und so bringt das Motto der neu gegründeten „Women Social and Political Union“ (WSPU) den Strategiewechsel auf den Punkt: Taten statt Worte – Deeds not words.

 

Jetzt wurden aktiv Versammlungen von politischen Freunden und Feinden gestört, lautstarke Demonstrationen abgehalten, mit dem eigenen Anketten (Downing Street, Westminster) gegen die Regierung demonstriert, Briefkästen gesprengt, leerstehende Gebäude in Brand gesetzt und sehr viele Schaufenster gingen zu Bruch: 1912 zerschmetterten 400 Frauen mit Hämmern bewaffnet zu einem verabredeten Zeitpunkt gleichzeitig Schaufenster in Londons Geschäftsstraßen.

 

Um Polizeiwillkür und vor allem die Verhaftung der oft zur Fahndung ausgeschriebenen Emmeline Pankhurst zu verhindern, bildete die Jiu-Jitsu-Trainerin Edith Garrud eine 25-Frau starke Bodyguard-Gruppe aus und gab Kurse in Selbstverteidigung.
Die wegen ihres autokratischen Führungsstils kritisierte Emeline Pankhurst ließ keine Zweifel aufkommen: „The WSPU is simply a suffrage army in the field“ – Die WSPU ist einfach eine Stimmrechts-Armee im Krieg.

 

Über 1.000 Frauen wurden inhaftiert und viele protestierten mit Hungerstreiks, um darauf aufmerksam zu machen, dass Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen wie Schwerverbrecher behandelt werden. Polizei und Regierung ordneten Zwangsernährung an, um Märtyrer zu verhindern.

Emily Davison, mehrfach inhaftiert und 49-mal zwangsernährt, wurde die erste Märtyrerin der Bewegung, als sie 1908 versuchte bei einem Pferderennen dem Pferd des Königs einen Suffragetten-Schal umzulegen.
Die wachsende Militanz und nicht gerade demokratisch organisierte WSPU führte zu Abspaltungen, auch unter den Pankhursts selbst.

 

Bei aller Bewunderung oder Kopfschütteln gegenüber den radikalen Aktionen der Frauen in der WSPU wird leicht übersehen, dass begnadete Organisations-Talente am Werk waren, die sehr erfolgreich Mittel und Spenden akquirierten, Zeitungen und Werbematerial produzierten und Präsenz mit Votes for Women-Shops in mehreren Städten Englands zeigten.

 

Bei allen Taten, waren doch Worte auch ein Mittel der Wahl. Am 21. Juni 1908 kamen fast eine halbe Million Menschen in den Londoner Hyde Park, um auf 20 Bühnen 80 Rednerinnen über das Wahlrecht der Frauen sprechen zu hören. Bei Anlässen wie dem Hyde Park Ereignis oder dem Volkszählungsboykott – „no vote, no census“ – unterstützten und beteiligten sich die unterschiedlichen Strömungen der Stimmrechtsbewegung.

 

Die Differenzen in der Bewegung waren nicht nur strategischer, sondern auch inhaltlicher Art. Die von der WSPU abgespaltene Womens Franchise League wollte wie sozialistische und gewerkschaftlich Organisierte eher ein gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen, während die gemäßigtere bürgerliche NUWSS und aus taktischen Gründen auch die WSPU eher auf das gleiche Wahlrecht analog dem der Männer setzten. Demnach wären nur wohlhabende Frauen an der Urne gleich, da das Wahlrecht für Männer in Großbritannien einkommensabhängig bzw. von Grund- oder Hausbesitz abhing.

 

Kritiker*innen aus der sozialistischen Ecke warfen den Pankhursts deshalb vor, nicht für Votes for women zu kämpfen, sondern für votes for ladies. Dieselbe Debatte über die Form des zu erstrebenden Wahlrechts bescherte dem bürgerlich-gemäßigten Lager der Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland den Vorwurf genaugenommen nur eine „Damenwahl“ und kein Frauenwahlrecht erreichen zu wollen.

 

Unabhängig von den Strategien und Methoden waren die Bewegungen weltweit damit konfrontiert, dass am Ende Männer – als Parlamentarier, Könige oder Regierungschefs – darüber entschieden, ob das Wahlrecht für Frauen eingeführt werden würde. Etwas anders entwickelte sich die Sache auf den Philippinen. Dort wurde 1935 eine neue Verfassung eingeführt, die erstmals Männern ein Wahlrecht ohne Einkommenshürden und mit geringer Bildungshürde zusprach (es reichte den eigenen Namen schreiben zu können).

 

Der jahrzehntenlangen Lobbyarbeit feministischer Organisationen – Asociacion Feminista Ilonga und Asociacion Feminista Filipina – ist es zuzurechnen, dass die Herren der Verfassungs-Kommission nicht darum herumkamen, das Frauenwahlrecht aufzunehmen, es allerdings an eine Bedingung knüpften: Artikel 5 der neuen Verfassung sah vor, dass das Wahlrecht der Frauen nur wirksam wird, wenn mindestens 300.000 Frauen in einem Frauen-Volksentscheid, der innerhalb von 2 Jahren nach Inkrafttreten der Verfassung durchgeführt werden muss, positiv dafür abstimmen.

 

Dieser Volksentscheid fand am 30. April 1937 statt. 500.000 Frauen beteiligten sich an diesem Referendum und 447,725 Frauen auf den Philippinen erreichten mit ihren JA-Stimmen ihren ersten großen Wahlerfolg. Der 30. April ist seit 1984 offizieller „womens suffrage day“ auf den Philippinen.

 

Ebenfalls ein Frauen-Referendum mit Massenbeteiligung fand am 26. April 1914 in Paris statt. Eine halbe Million Frauen beteiligten sich an dieser Abstimmung, die einen in Wahllokalen in ganz Paris, die anderen schickten ihren Stimmzettel per Briefwahl (26.4. – 3.5.). Die Zustimmung betrug 99,9 %. Dass das mehr als eindeutige Votum der Französinnen nicht zur Einführung des Frauenwahlrechts führte, hat damit zu tun, dass das Referendum – parallel zur Wahl der Nationalversammlung am 26.4. – nicht von der französischen Regierung, sondern von Frauenorganisationen in Zusammenarbeit mit der Tageszeitung Le Journal durchgeführt wurde.

 

Unbeeindruckt ließ das Votum die Parlamentarier dennoch nicht, im Parlament wurde wiederholt der Antrag zur Einführung des Frauenwahlrechts eingebracht und erzielte dort auch zunehmend eindeutige Ergebnisse, 1935 sogar einstimmig. Ausnahmslos jeden dieser Anträge lehnte die 2. französische Kammer, der Senat, allerdings ab.

 

Mit vollem Stimmrecht traten die Frauen in Frankreich erstmals am 29. April 1945 an die Wahlurnen.

 

„Ich gebe hiermit bekannt, dass die Frauen der Vereinigten Staaten von Amerika ab sofort das Wahlrecht haben“ ließ Victoria Woodhull 1870 als Schlagzeile ihrer eigenen Wochenzeitung Weekly drucken und lieferte die Begründung gleich hinterher. In der US-amerikanischen Verfassung steht: „Die Bürger jedes Staates sollen zu allen Priviliegien … berechtigt sein, die Bürger in einzelenen Staaten haben“ und nachdem Frauen in Wyoming 1870 ihr Wahlrecht erstmal ausübten, müsste dies nun für alle gelten. Außerdem unterscheide die Verfassung nicht nach Geschlecht, sondern kenne nur „Personen“, die Rechte haben.

 

Mit ihrer schlüssigen Argumentation brachte sie es im Januar 1871 als erste Frau an das Rednerpult des Rechtsausschusses im US-Kongress in Washington. Mehr Mühe bereitete ihr der Zugang zur Frauenstimmrechtsbewegung in den USA, denn unter den bügerlichen Frauen der Bewegung galt der Ruf von Viktoria Woodhull als – zweifelhaft.

 

Die Selfmade-Woman Victoria Woodhull hatte es von der Straße bis zur erfolgreichen Brookerin an der Wall Street geschafft und ihr Programm als erste weibliche Präsidentschaftskandidatin der USA im Jahr 1872 zeigt, warum bürgerliche Kreise Annäherungsschwierigkeiten hatten.

 

„Vote for Victoria!“ stand für radikale Sozialreformen – Achtstundentag, Lohngleichheit, Wohlfahrts-, Bildungs- und Gesundheitssysteme, sozialisitsche Wirtschaftskonzepte, positionierte sich gegen Rassismus, sexuelle Gewalt, die Todesstrafe, für eine liberale Sexualpolitik – freie Liebe ohne Ehegesetze, stattdessen Verhütung und Aufklärung – und gegen Kriminalisierung von Prostitution und Abtreibung. Bis auf den Wahlzettel schaffte es sie aber nicht, formal erfüllte sie allein das Mindestalter von 35 Jahren nicht.

 

Ida B. Wells in Chicago war noch jünger als Victoria Woodhull, aber vor allem war sie Afroamerikanerin, geboren in der Sklaverei Mississippis. Als Lehrerin und Journalistin agierte sie aktiv gegen Rassismus und flüchtete vor Verfolgung nach Chicago.
Durch Ergänzungen zur US-Verfassung hatten 1868 auch schwarze Männer das Wahlrecht erhalten, während Frauen (bis 1920) weiter ausgeschlossen blieben. Das hatte zu harschen Spaltungen zwischen den lange Zeit vereinten Freiheitsbewegungen schwarzer Männer und weißer wie schwarzer Frauen geführt.

 

In Chicago hatte Ida B. Wells zusammen mit ihrer weißen Kollegin Belle Squire den Alpha Suffrage Club gegründet, um die wahlberechtigten Männer in den „black communities“ zu motivieren, ihr Wahlrecht zu nutzen und um politische Gleichberechtigung und aktive Partizipation von Frauen zu erreichen.

 

Vort Ort erlebten Wells und der Alpha Club Gegenwind aus der eigenen community, weil Frauen „an den Herd“ und nicht in die Politik gehören und auf der nationalen Ebene, weil schwarze Aktivistinnen schlecht fürs Image der Frauenbewegung seien.
Als die National American Woman Suffrage Association am 8. März 1913 eine gewaltige internationale Parade durch die Straßen Washingtons schickte, sollten alle schwarzen Frauen am Ende des Zuges laufen statt in den Reihen ihres Bundesstaates. Ida B. Wells weigerte sich und drückte sich vom Publikum aus zwischen die Delegation Illinois, wo sie im Block ihre Alpha Club-Mitstreiterinnen Belle Squire und Virginia Brooks an ihrer Seite aufnahmen.

 

Das Wahlrecht in den USA ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie moderne Demokratien ihre Bevölkerung durch politische Beteiligung für dazugehörig erklären oder nicht.

 

Während der politische Flüchtling aus Deutschland, Karl Schurz, 1857 als stellvertretender Gouverneur von Wisconsin auf dem Wahlzettel stand – ohne die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu besitzen – erhielt die „Ur-Bevölkerung“ in den USA erst 1965 ein gleiches Wahlrecht und die erste weibliche „Native American“ wurde 2018 in das US-Parlament gewählt.

 

Das Stimmrecht für Frauen scheint heute nur ein Baustein einer geschlechter-gerechten Gesellschaft, aber war – und ist dort, wo es noch eingeschränkt wird – eine Schnittstelle der Frauenbewegungen, ein einendes Ziel, das Motivation und Selbstbewußtsein gab wie Einfluss für die eigenen Themen versprach. Die aktiven Frauen waren nicht selten einem massiven Antifeminismus ausgesetzt. Sie bedienten sich aller denkbaren Strategien und Kampfmethoden – von Unterschriftensammlungen über Medien- und Lobbyarbeit, Straßenprotesten bis zum Hungerstreik. Eine ihrer Stärken und Lebensader war die internationale Vernetzung.

 

Diesen mutigen Frauen verdanken wir an vielen Orten der Welt eine entscheidende Etappe für Gleichberechtigung und demokratischen Fortschritt.

 

CLEMENS HAUSER